Seit 1860: Mit dem Schiff über die Berge in den Masuren
Klar, ein Perpetuum mobile gibt es nicht. Aber doch so etwas Ähnliches. Und es hat inzwischen auch einen technischen Denkmalsschutzstatus – gemeint ist der Kanał Elbląski in der Woiwodschaft Warmińsko-Mazurskie, südlich von Elbląg. Dem Wasserbauingenieur und preußischen Baubeamten Georg Jakob Steenke (1801-1884) und seinen Mitarbeitern – dem preußischen Baumeister und zeitweiligem Rektor der Berliner Bauakademie Wilhelm Severin (1782-1861) sowie dem Bauingenieur Carl Lentze (1801-1883) – ist dieses originelle Wunderwerk zu verdanken.
Lösung: Made in USA
Bereits Ende des 18. Jahrhunderts war ein Kanalbauprojekt im ostpreußischen Oberland angedacht worden, um die Holztransporte schneller und effizienter an die Ostseeküste zu bringen. Verschiedene Vorschläge wurden verworfen. Erst 1836 begann Steenke mit einer realistischen Planungsphase. Allerdings wollte er den zu überwindenden Höhenunterschied von knapp 100 m zunächst durch 20 Kammerschleusen ausgleichen. Dies war rasch aus Kostengründen vom Tisch. Bei einer Studienreise fand er 1850 im US-Bundesstaat New Jersey eine akzeptable Lösung: geneigte Ebenen, über die Schiffe auf Wagen transportiert wurden. Das ergab den Durchbruch für sein Oberländisches Kanalprojekt. Diese Schienenlösung über Grashügel machten die Schleusen überflüssig und bedeuten gleichzeitig eine technische Innovation.
Kanal für Frachter
Es entstanden bis 1860 bei Buchwalde (heute: Buczyniec), Kanthen (Kąty), Schönfeld (Krasin) und Hirschfeld (Jelonki) die ersten vier geneigten Ebenen des 130 km langen Oberländischen Kanals (heute: Kanał Elbląski). Damit konnte das ehrgeizige Projekt zwischen Osterode (heute: Ostróda) und Elbing (Elbląg) am 31. August 1860 für den Verkehr freigegeben werden. Zwischen 1874 und 1881 wurde noch ein weiterer Rollberg in das Kanalsystem integriert – bei Kussfeld (heute: Całuny).
Zu jener Zeit passierten dann täglich bis zu 20 Frachtschiffe den Kanal mit seinen Bergen. Baumeister Steenke will 1862 sogar an einem Tag mal 57 Transporte gezählt haben. Doch der um 1900 beginnende Eisenbahnbau grub faktisch den Reedereien das Wasser ab. Die Holz- und andere Wirtschaftstransporte verlagerten sich schnell vom Schiff auf die Schiene. Trotzdem gab es – mit Unterbrechung während des Zweiten Weltkrieges und danach – noch bis 1964 Güterverkehr auf dem Kanal.
Touristische Anziehungspunkte
Die künstliche Wasserstraße durch das Oberland wurde auch schon ab 1912 von Ausflugsschiffen mit frequentiert. Die Reederei Adolf Tetzlaff aus Osterode (heute: Ostróda) war der erste Anbieter solcher Erlebnisfahrten. Das Schifffahrtsunternehmen bekam ab 1920 Konkurrenz aus Saalfeld (heute: Zalewo). Auch als Tetzlaff seine Ausflugsdampfer ab 1948 wieder schippern ließ, dümpelte doch die touristische Kanalschifffahrt eher so vor sich hin. Ungeachtet dessen waren die Rollberge, über die die Schiffe die Landpassage bewältigen, stets Anziehungspunkte für Schaulustige.
Das Jahr 1992 markiert einen neuen Meilenstein in der Kanalgeschichte. Denn da übernahm die Stadt Ostróda den gesamten Kanalbetrieb und den Schutz des Ökosystems in dessen Umgebung. Seither verkehren zwischen Anfang Mai und Ende September fahrplanmäßige Schiffe auf dem Kanał Elbląski, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen.
Überraschungsbesuch
Diese technische Attraktion ist nahezu ein Muss auf dem Besuchsprogramm in der Region. Um mir das technische Denkmal in Aktion und eventuell auch das dortige Museum zu betrachten, steuerte ich den Rollberg bei Buczyniec an der Straße 526 an. Da keine Pkw-Stellfläche mehr auf dem dortigen Parkplatz (GPS-Daten: N53°58‘38‘‘ E19°37‘9‘‘) frei war, wollte ich mein Fahrzeug auf einer der vorhandenen Busstellflächen deponieren. Noch während des Parkvorganges kam ein Mann auf uns zu. Seiner Uniform nach musste es einer sein, der mit der Schifffahrt zu tun hat. Ich kam gar nicht dazu, ihm zu erklären, dass ich hier nur kurz Fotos vom Schiffstransfer über die grüne Wiese machen wollte. Er fragte gleich, ob wir Interesse hätten, mit einem der Schiffe über zwei dieser Rollberge zu fahren. Natürlich. Er telefonierte sofort und schickte uns dann auf der Straße weiter in Richtung Lepno. Dort gebe es dann links im Wald einen kleinen Parkplatz (GPS-Daten: N53°57‘57‘‘ E19°37‘14‘‘) und eine Anlegestelle. Kurz nach unserem Eintreffen kam auch schon ein kleiner Dampfer an. Das gut 15 m lange und 3,20 m breite MS Cyranka legte an und wir stiegen ein – zu einer spontanen zweistündigen Kanaltour über die geneigten Ebenen von Buczyniec und Kąty.
Spreewaldatmosphäre
Fast geräuschlos gleitet das Schiff auf der Wasserstraße durch die scheinbar unberührte Natur. Blumenpflücken scheint während der Fahrt erlaubt zu sein, denn es geht langsam vorwärts. Entschleunigung pur. Und der Blick in die vorbeiziehende Landschaft lässt Assoziationen zu Spreewaldfahrten aufkommen.
Offenbar hatten wir an diesem Tag doppeltes Glück. Denn die unverhoffte Schiffstour auf dem Kanał Elbląski bescherte uns später auch noch überraschende Einblicke in die (Wunder-)Welt der Rollbergtechnik. Doch zunächst genossen wir die Passage und den Service an Bord. Denn eigentlich war eine Reisegruppe angemeldet, die aber irgendwie nicht kam. So hatte die Besatzung nicht nur freie Platzkapazitäten, sondern auch ausreichend Kuchen und Getränke parat.
Übern Berg
Wenig später kam Land in Sicht voraus: Der Rollberg von Buczyniec – wo ich ursprünglich parken wollte. Der Schiffsführer steuerte einen der Befestigungspunkte an. Sein begleitender Matrose vertäute die Cyranka und schlug gegen einen Gong, der dort hing. Kurz darauf ging die Fahrt weiter – in einem gerüstähnlichen Gestell und auf Schienen, gezogen von einem Stahlseil. Auf dem 550 m langen Landweg überwindet das Schiff dort einen Höheunterschied von 21,50 m. Unmerklich taucht das Transportgefährt wieder ab, sodass der Dampfer dann mit eigener Kraft seinen Weg fortsetzen kann.
Ein Stückchen weiter stromabwärts wiederholt sich das gesamte Prozedere bei Kąty: festmachen, gongen und dann die Fahrt am Seil auf Schienen über die 450 m lange Piste, um 18 m tiefer wieder ins Kanalbett zu tauchen. Nach einem Wendemanöver an einer breiteren Wasserstelle geht es stromaufwärts wieder in Richtung Ostróda, dem Heimathafen des MS Cyranka. Unmittelbar nach dem schienengebundenen Aufstieg zum höheren Kanalteil bei Kąty, legt das Schiff am dortigen Kai an.
Hinter den Kulissen
Nur wenige Schritte sind es bis zum Maschinenhaus, dem Herzstück des jeweiligen Rollberges. Riesige Zahnräder und eine große Rolle, über die das Endlosseil für die Förderwagen läuft, füllen die Hälfte des Raumes aus. Monitore zeigen verschiedene Livebilder des Außenbereiches. Hinter dem Gebäude wird die Antriebstechnik sichtbar: Ein gewaltiges Wasserrad. Jede dieser zahllosen Schaufeln bewegt eine Tonne Wasser. Wenn der Gong der Schiffsbesatzung ertönt, gibt der Maschinist mit einem Hebel den Wasserfluss frei.
Dieser setzt das Räderwerk in Bewegung und zieht die beiden parallellaufenden Förderwagen aus dem Kanal über die geneigte Ebene – ob mit oder ohne Schiffe. Die Wassermassen, die die Technik antreiben fließen in einem separaten System in den tieferliegenden Kanalteil. Somit funktioniert die schiffbare Landpartie ohne zusätzliche Energiequelle – also doch ein bisschen wie ein Perpetuum mobile.
Nach der technischen Stippvisite, die das Geheimnis der Ingenieurleistung des 19. Jahrhunderts lüftete, zeigte uns die Schiffscrew noch dokumentarisches Filmmaterial über den ursprünglichen Bau des Oberländischen Kanals sowie von der Grundsanierung des Teilabschnittes vom Kanał Elbląski bei Buczyniec, der 2013/2014 erfolgte.
Zu guter Letzt
Für alle, die sich im Sommerhalbjahr anschauen wollen, wie in der Woiwodschaft Warmińsko-Mazurskie Schiffe übers Land fahren, seien drei (Foto-)Standorte empfohlen: Pochylnia Buczyniec (GPS-Daten: N53°58‘38‘‘ E19°37‘9‘‘) und/oder Pochylnia Kąty (GPS-Daten: N53°59‘40‘‘ E19°36‘51‘‘) sowie Pochylnia Jelonki (GPS-Daten: N54°2‘14‘‘ E19°34‘28‘‘). Ein Erlebnis ist es auf jeden Fall, auch ohne die Schiffstour über die Berge.
An der Uferpromenade in Ostróda befindet sich das Schifffahrtsbüro, das sowohl über die Fahrpläne informiert als auch Bordkarten verkauft.
Text & Fotos: Herbert Schadewald | Oktober 2018