ReiseBerichte | Polen


Im Reich von Liczyrzepa


Granitgestein ist der Hauptbestandteil des Gebirgszuges im polnisch-tschechischen Grenzgebiet, dessen höchster Gipfel 1602 m erreicht und – je nach Ansichtsseite – Śnieżka oder Snĕžka genannt wird. Bereits 1959 erklärte die Volksrepublik Polen ein 56 Quadratkilometer großes Areal zum Karkonoski Park Narodowy (KPN). Vier Jahre später deklarierte auch die ČSSR rund 370 Quadratkilometer ihrer Bergseite zum Krkonošský národní park (KRNAP). Inzwischen sind weite Teile dieses 631 Quadratkilometer großen polnisch-tschechischen Grenzgebirges zusätzlich UNESCO-Biosphärenreservat.

Karkonosze nennen die Polen ihre Bergseite, die hierzulande seit dem 16. Jahrhundert als Riesengebirge bezeichnet wird. Zwischenzeitlich gab es auch andere Namen – Schneegebirge oder Böhmisches Gebirge – für diesen Höhenzug. Dessen Besiedlung begann auf nördlicher Seite Ende des 13. Jahrhunderts. Erst fünf Jahrhunderte später bevölkerte sich die Südseite. Inzwischen entwickelte sich die Region zu einem der traditionsreichsten Touristengebiete in Mitteleuropa – im Sommer wie im Winter.

Zu den wohl prominentesten Vorfahren dieser inzwischen ganzjährigen Touristeninvasion gehörten zweifellos Johann Wolfgang von Goethe und Theodor Körner sowie der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. mit seiner Frau Luise von Mecklenburg-Strelitz, die bereits im 18./19. Jahrhundert auf die Schneekoppe (heute: Śnieżka bzw. Snĕžka) stiegen. Es muss für sie ein mühevoller Weg auf den Gipfel gewesen sein, der inzwischen per Seilbahn erreicht werden kann.

Besonders ab der 1950er Jahre wurden die touristischen Bedingungen auf beiden Bergseiten massiv ausgebaut. So gibt es zahlreiche markierte Fuß- und Radwanderrouten durch diese Naturlandschaft. Es sind zweifellos teilweise recht anspruchsvolle Strecken, auf die sich Benutzer entsprechend einstellen sollten.

Und wie nahezu alle Bergregionen hat auch diese ihre speziellen Mythen. Im konkreten Fall ist es der als launisch beschriebene Berggeist Rübezahl (polnisch: Liczyrzepa), der seit dem 16. Jahrhundert die regionale Sagenwelt belebt. Hans Schultze (1630-1680), der als Schriftsteller unter dem Namen Johannes Praetorius publizierte, trug 241 Rübezahlgeschichten zusammen, die er zwischen 1662 und 1665 in einem dreibändigen Werk veröffentlichte. So machte er diesen Berggeist bereits damals weit über die schlesischen Grenzen hinaus bekannt.

Die nördliche Karkonosze-Region ist jedoch auch reich an kulturhistorischen Zeugnissen, die Abseits von sportaktivtouristischen Routen ein lohnendes Reiseziel darstellen. Wer also nicht nur zum (Rad-)Wander- oder Skiurlaub nach Kotlina Jeleniogórska in die südwestliche Woiwodschaft Dolnośląskie kommt, findet dort zahlreiche besuchswerte Stätten.

Jelenia Góra

Der Ende des 13. Jahrhunderts gegründete Ort hieß bis 1945 Hirschberg. Nach der Befreiung durch die Rote Armee wurde die gesamte Region unter polnische Verwaltung gestellt und der ursprüngliche Stadtname einfach ins Polnische übersetzt. So wundert es nicht, dass im gesamten Stadtgebiet kleine lustige Hirschplastiken in unterschiedlichsten Positionen zum Schmunzeln und Fotografieren animieren.

Da es in Hirschberg kaum Kriegsschäden gab, blieb das Altstadtbild weitgehend erhalten – auch wenn erst Mitte der 1960er Jahren die Bausanierungen begannen. So wurden auch die Bürgerhäuser mit ihren gewölbten Arkadengängen rund um das Rathaus wieder rekonstruiert. In ihnen wohnten einst die reichsten Bürger. Das Rathaus selbst existierte dort bereits seit dem 14. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert bekam es den jetzt noch sichtbaren Barockstil.

Wer von Rathaus der ulica Konopnickiej folgt gelangt zum Brama Wojanowska, dem einstigen Schildauer Tor, das Teil der ursprünglichen Stadtbefestigung war. Der Turm dazu stammt aus dem Mittelalter, wurde aber nach einem Einsturz 1480 wiedererrichtet. Unmittelbar daneben befindet sich die St.-Annen-Kapelle.

Nach dem Vorbild der Stockholmer Katharinenkirche entwarf der Architekt Martin Frantz (1679-1742) die ursprüngliche evangelische Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz, die 1718 geweiht wurde. Ein weitläufiges Friedhofsgelände, von dem nur noch die 19 prachtvollen Grufthäuser an der Friedhofsmauerinnenseite erhalten sind, umgab den Sakralbau. Auf dem Kirchengelände war 2009 der markierte geografische Mittelpunkt von Jelenia Góra.

Etwas außerhalb der Altstadt, im südlichen Teil der 87000-Einwohnerstadt, beherbergt das Muzeum Karkonoskie in der ulica Jana Matejki 28 unter anderem Polens größte Sammlung von künstlerisch gestalteten Gläsern. Rund 8000 Teile umfasst dieser Ausstellungsbereich.

Seit mehr als sechs Jahrzehnten lockt im September das Stadtfest Wrzesień  Jeleniogórski zahlreiche Besucher nach Jelenia Góra. Sie erwartet stets ein reichhaltiges Programm an kulturellen Veranstaltungen der verschiedensten Art. Und erfahrungsgemäß sind dann die rund 2000 Gästebetten, die die Stadt in unterschiedlichsten Kategorien zu bieten hat, meist sehr gut belegt.

Kowary

Nur etwa 15 km sind es von Jelenia Góra bis Kowary. Und dort lassen sich auch nahezu alle Sehenswürdigkeiten von Jelenia Góra betrachten – im Miniaturenpark.

Er ist einer von 23 Anlagen dieser Art in Polen. Die durchaus attraktive Ausstellung versteckt sich etwas im hinteren Bereich eines nur noch teilweise funktionierenden Industrieareals an der ulica Zamkowa. 2003 wurde der großflächige Park auf dem Gelände einer ehemaligen Teppichfabrik eröffnet. In originalgetreuen Maßstäben von 1:25 und 1:50 können rund 60 Bauwerke aus der gesamten Woiwodschaft Dolnośląskie bewundert werden. Es sind wirklich architektonische Kostbarkeiten, die stilvoll in einem speziellen Landschaftspark platziert wurden. Beim Betrachten der detailgetreuen Burgen, Häuser, Kirchen, Rathäuser und Schlösser im Miniformat keimt der Wunsch, auch diese einmal im Original sehen zu wollen.

Einige der ausgestellten Objekte befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft – wie beispielsweise die Śnieżka-Wetterstation oder die weltberühmte Kirche Wang.in Karpacz.

Karpacz

Der Legende nach soll der Berggeist Liczyrzepa dort gewohnt haben. Mit dieser Geschichte schmücken sich zahlreiche Orte in den Gebieten beiderseits des Gebirges. Fakt ist allerdings, dass es Ende des 16. Jahrhunderts dort eine Blei- und Eisenmine gab. Später bestimmten Leineweber, Handwerker und Arzneikräutersammler das Geschehen am Śnieżka-Fuß. Inzwischen scheint die Stadt ausschließlich vom Tourismus zu leben. Denn neben den knapp 5000 Einwohnern gibt es etwa 8500 Gästebetten – mehr als viermal so viel wie in Jelenia Góra. Und vor allem während der Sommer- und Wintersaison ist die Bergmetropole extrem gut bevölkert. Bieten sich doch die zahlreichen Wanderrouten durch den Karkonoski Park Narodowy geradezu für Aktivtouristen an. Natürlich mangelt es auch an entsprechenden Wintersportmöglichkeiten nicht. Immerhin befindet sich Karpacz zwischen 480 und 885 m über NN. Wer die Berge liebt, kommt selbst im Stadtgebiet auf seine Kosten, denn es gibt kaum eine Straße oder einen Weg, der kein Gefälle oder keine Steigung aufweist.

Häufiger Sommergast im damaligen Krummhübel war Theodor Fontane. Er besuchte dabei eventuell auch die Kirche Wang, die der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. im benachbarten Brückenberg aufbauen ließ. Das aus norwegischem Kiefernholz gefertigte Gotteshaus stammt ursprünglich aus dem 12. Jahrhundert und stand bis 1841 im Südnorwegischen Vang, am Ufer des Vangsees. Dann kaufte sie der preußische Monarch für schlappe 427 Mark und ließ sie vom Architekten Franz Wilhelm Schiertz demontieren. Die Einzelteile wurden zunächst nach Berlin verfrachtet, um sie auf der Pfaueninsel wieder zu errichten. Da das nicht realisiert wurde, setzte sich die Gräfin Friedericke von Reden dafür ein, die Holzkonstruktion am Schwarzen Berg im Riesengebirgsort Brückenberg zu positionieren. Im Sommer 1844 wurde die Stabkirche mit ihren herrlichen Schnitzereien dort feierlich wiedereröffnet. Seither gehört sie zweifellos zu den kulturtouristischen Attraktionen. Und Brückenberg wurde später ein Ortsteil von Krummhübel, dem jetzigen Karpacz. Steil bergan führt eine gepflasterte Straße von der ulica Na Śnieżkę zu dieser Holzkirche mit ihrem steinernen Glockenturm. Das Gotteshaus kann individuell besichtig werden, sofern dort nicht gerade eine Reisegruppe in der nagellosen Konstruktion instruiert wird.

Mit seinem 1955 veröffentlichten Roman „Die Fluchtburg“ setzte Gerhart Pohl (1902-1966) dem Haus in der ulica Wilcza 24 ein bleibendes Denkmal. Denn in diesem Gebäude, das er 1932 kaufte, traf er sich mit Gleichgesinnten – mit bekannten oppositionellen Künstlern und Verfolgten des Naziregimes. Gemeinsam mit Edwin Pech, dem Pfarrer der Evangelisch-Augsburgischen Gemeinde Wang in Karpacz, initiierten Heike und Michael Schuster aus Bernburg 2015 die Gründung des Vereins „Fluchtburg e.V.“. Diese international besetzte Organisation kümmert sich seither intensiv um die Rekonstruktion und Erhaltung dieses historischen Holzhauses im Süden der Stadt, in dem nun auch wieder übernachtet werden kann.

Borowice

Wer in Karpacz der ulica Na Śnieżkę in nördlicher Richtung nach Borowice folgt und sich dort von dem Sackgassenschild nicht abschrecken lässt, trifft am Ende dieser Bergstraße auf einen Waldparkplatz und einen Gedenkfriedhof.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges errichteten die Nazis im damaligen Baberhäuser das Kriegsgefangenenlager Kommando Stalag VIII A Waldlager, deren Insassen unter unmenschlichen Bedingungen die sogenannte Spindlerpassstraße bauen mussten. Schon während dieser Schindereien starben zahlreiche Häftlinge. Als die Rote Armee näher rückte wurde das Lager aufgelöst und die restlichen Gefangenen erschossen. Schätzungen gehen davon aus, dass dort etwa 1000 Leben ausgelöscht wurden. Dieses Waldlager existiert nicht mehr. Nur der kleine Waldfriedhof an der errichteten Passstraße erinnert an die vielen internationalen Opfer, die der Bau in den Kriegsjahren forderte.

Jagniątków

Der Gebirgszug lockte über Jahrhunderte immer wieder Schriftsteller an und inspirierte sie. Der Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann ging noch einen Schritt weiter und ließ sich vom Berliner Architekten Hans Grisebach 1900 im damaligen Agnetendorf ein mehrgeschossiges Gutshaus im Neorenaissancestil hinstellen – die Villa Wiesenstein.

Dieses Anwesen, in das er 1901 einzog, nannte Hauptmann „die mystische Schutzhülle meiner Seele“. Und im Unterschied zu seinen deutschen Nachbarn, die ab 1945 von den polnischen Behörden auch aus dem zwischenzeitlich in Agnieszków umbenannten Örtchen vertrieben wurden, durfte der berühmte Dichter durch einen Schutzbrief des sowjetischen Kulturoffiziers Oberst Michail P. Sokolov bis zu seinem Tod am 6. Juni 1946 in dieser Villa verbleiben. Der Sarg wurde mit einem Sonderzug überführt, sodass Hauptmann am 28. Juli 1946 in Kloster auf Hiddensee beigesetzt werden konnte. Dies entsprach zwar nicht seiner testamentarischen Festlegung, aber auf der Ostseeinsel hatte er 1930 das Haus „Seedorn“ gekauft, in dem er jeden Sommer verbrachte und in dessen Sichtweit er begraben wurde.

Nach dem Tod des Dichters diente die Villa Wiesenstein in Jagniątków bis 1997 als Kinderheim Warszawianka. Ende der 1990er Jahre verständigten sich Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki darauf, das ehemalige Hauptmann-Domizil in dem 1,6 Hektar großen Park mit riesigen Granitbrocken zu einem musealen Kulturzentrum umzugestalten. 1999 begannen die Sanierungen, sodass es im August 2001 als Städtisches Museum „Gerhart-Hauptmann-Haus“ der Öffentlichkeit zugängig gemacht werden konnte.

Der Schriftsteller Hans Pleschinski lässt in seinem 552 Seiten umfassenden Roman „Wiesenstein“ die beiden letzten Jahre von Gerhart Hauptmann in seiner Villa lebendig werden. Dieses 2018 im C.H. Beck Verlag München erschienene Buch kostet 24 Euro.

Was innerhalb der letzten Lebenstage von Gerhard Hauptmann in seiner Villa Wiesenstein geschah, schildert Gerhart Pohl in seinem 172-seitigen Buch „Bin ich noch in meinem Haus“ (Plöttner Verlag UG). Der Schriftsteller begleitete den Literaturnobelpreisträger viele Jahre und war bis zuletzt Hauptmanns persönlicher Mitarbeiter. Die Zusammenarbeit mit Gerhart Hauptmann bezeichnete Gerhart Pohl einmal als „das Erlebnis meines Lebens“. Pohl war es schließlich auch, der gemeinsam mit Johannes R. Becher dafür sorgte, dass der sogenannte „Hauptmannzug“ nach Hiddensee überhaupt erfolgte.

Beitrag von Herbert Schadewald | Fotos: Gabriele und Herbert Schadewald | August 2023