Mit seiner idyllischen Landschaft und der Jahrtausende alten Geschichte ist er zweifellos ein Anziehungspunkt: der Spreewald. Eine Stippvisite im niedersorbischen Teil lässt erahnen, dass die gesamte Region in Südbrandenburg noch viel mehr davon zu bieten hat.
Sie hat mich schon seit Jahrzehnten fasziniert. Und stets versuchte ich, zumindest für Sekunden ein Blick auf sie zu erhaschen, wenn ich auf der Autobahn 15 unterwegs war. Das ist jene 64 km lange Trasse, die das Spreewalddreieck mit dem deutschen-polnischen Grenzübergang bei Klein Bademeusel verbindet. Und zwischen den Anschlussstellen Boblitz und Vetschau ist sie kurzzeitig südlich dieser Ost-West-Autobahn zu sehen – die Slawenburg Raddusch.
Zugegeben, besonders attraktiv ist sie äußerlich nicht. Und es ist auch keine Burg im üblichen Sinne – so mit Wehrturm, Zinnen, Zugbrücke und so. Das historische Objekt, das nur einen Steinwurf von der Autobahn entfernt in einer relativ baumlosen Landschaft steht, ist eher schlicht. Ein schnörkelloser Rundbau. Eine Slawenburg eben. Doch von ihr geht eine besondere Strahlkraft aus, eine geheimnisumwitterte Faszination, die mich stets immer wieder in ihren Bann zog.
Nach den Pandemiejahren 2020 und 2021 machte ich mich im Herbst 2022 wirklich endlich auf den Weg, um mir das Bauwerk im Biosphärenreservat näher zu betrachten. Es wurde eine (Zeit-)Reise in die regionale Geschichte dieses niedersorbischen Spreewaldgebietes.
Basisstation Raddusch (Raduš)
Raduš ist seit 1843 der niedersorbische Name für Raddusch. Der Ort wurde 1294 erstmals urkundlich erwähnt und hatte bis dato mindestens sechs andere Schreibweisen. Doch noch heute sind einige der knapp 700 Einwohner sorbischer Abstammung.
1884 sah dies ganz anders aus. Da waren von den 869 Einwohnern 854 Sorben und 15 Deutsche. Und diese Minderheit beherrschte das Sorbische. Auch wenn sich im Laufe der Zeit das ethnografische Verhältnis umkehrte, so dominiert in der gesamten Spreewaldregion die sorbisch-deutsche Zweisprachigkeit.
Raddusch (Raduš) ist inzwischen verwaltungsmäßig ein Ortsteil von Vetschau/Spreewald (Wĕtošow/Błota), obwohl es landschaftlich einige Kilometer entfernt liegt. Dieser überschaubare Außenstadtteil vor den Toren der gleichnamigen Slawenburg diente als optimales Basislager für die regionale Tourismusrecherche. Vor allem bot sich das Hotel „Radduscher Hafen“ durch seine Lage für den mehrtägigen Aufenthalt an. Denn diese Unterkunft im Ortszentrum ermöglicht nicht nur das Übernachten in einem der 65 Zimmern, sondern bietet auch verschiedenste Freizeitangebote in diesem brandenburgischen Naturparadies. Gleichzeitig kann dieses gastliche Domizil auf eine über 480-jährige Tradition verweisen. Denn um 1542 wurde dieses Wirtshaus als Lehmfachwerkgebäude mit einem Strohdach errichtet und bekam die Hausnummer 1. Schon bald spielte sich dort das geistig-kulturelle Leben des Ortes ab. Anfang der 1920 Jahre wurden mehrere Fremdenzimmer ausgebaut. Denn es gab eine steigende Nachfrage, da Raddusch (Raduš) damals einer der wenigen Spreewaldorte war, die einen Bahnanschluss hatten. Das förderte den einsetzenden Tourismus. Der Ausbau zum Hotel erfolgte allerdings erst 1997/1998.
Unmittelbar an das Hotelgelände grenzt der Naturhafen Raddusch. Es ist ein idealer Ausgangspunkt, um den Spreewald vom Wasser aus zu erkunden. Die Kahnfährgemeinschaft Raddusch e.V. bietet dafür sieben Touren mit unterschiedlicher Länge zwischen zwei und acht Stunden an. Dieser Naturhafen und die nahe Liebesinsel waren auch schon Kulisse im 6. Teil (Mörderische Hitze) der erfolgreichen Spreewaldkrimis des ZDF. „Thematisch hat mich nicht nur das Mythische in der Landschaft, sondern ebenso der wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch im Spreewald fasziniert“, erzählt der Drehbuchautor Thomas Kirchner in einem vom örtlichen Tourismusverband herausgegebenen „Spreewald-JOURNAL“. Der gebürtige Berliner verfasste die ersten 13 Serienteile, von denen noch einige in der ZDF-Mediathek zu finden sind. Inzwischen fand Thomas Kircher im Oderbruchdorf Solikante den im Januar 2021 von Jan Groh gegründeten Verlag Sol et Chant, der nun die 13 Krimidrehbücher herausgibt. Das erste Buch (Spreewaldkrimi: Drehbücher Band I) von insgesamt drei Bänden erschien im Frühjahr 2022. Mitte November 2022 kam „Spreewaldkrim. Drehbücher Band II“ in den Handel. Beide Ausgaben kosten jeweils 28 Euro. Die Texte wurden „zur besseren Lesbarkeit von allzu viel technischem Ballast befreit. Und sie sind nicht einfach nur abgeschriebene Filme“, verdeutlicht der Autor in dem Interview. Im Hafen von Lübbenau/Spreewald (Lubnjow/Błota) starten zwischen Mai und Oktober jeweils mittwochs und sonntags ab 11 Uhr die Kahnfahrten zu einer fünfstündigen Krimitour, bei der die Drehorte dieser beliebten ZDF-Serie gezeigt werden.
Spreewald ist Natur pur
Wer sich mit einem der Kähne durch die Fließe und schier unendliche Naturidylle staken lässt, erfährt unter anderem auch, dass der Spreewald ein Produkt der letzten Eiszeit ist. Die schmelzenden Gletscher ließen ein feingliedriges Netz aus kleinen Flüsschen entstehen.
Zwischen dem 2. und 5. Jahrhundert siedelten sich in dem wasser- und waldreichen Gebiet zeitweise germanische Stämme an. Mit der großen Völkerwanderung kamen im 6. Jahrhundert die ersten Slawen und entwickelten die Region zur Kulturlandschaft, wie sie sich heutzutage noch präsentiert. Und vom Naturhafen Raddusch führen zahlreiche, gut markierte Wanderwege durch das weitgehend stille Biosphärenreservat. Diese Strecken, die vorwiegend entlang der Fließe und Kanäle führen, lassen sich auch teilweise abradeln. Nennenswerte Steigungen sind dabei nicht zu überwinden. Allerdings muss der Drahtesel gelegentlich über Holzbrücken geschoben werden.
Nur wenige Schritte jenseits des Naturhafens sind es bis zur Alpaka-Farm. Während die in den südamerikanischen Anden beheimateten Tiere auf der saftigen Spreewaldwiese grasen können sich interessierte Tierliebhaber in einem Shop umschauen oder dort einen Fotosafaritermin mit dieser kuschlig wirkenden Kamelart buchen. Wer allerdings dem Wanderweg an der Farm vorbei folgt, befindet sich automatisch auf dem wenige hundert Meter langen Skulpturenpfad. Am Wegesrand haben die Holzbildkünstler Lech Beben und Andreas Metzler 2017 aus abgestorbenen Bäumen fantastische Kunstwerke erschaffen.
Etwa zwei Kilometer außerhalb von Raddusch (Raduš) befindet sich die Buschmühle mit der Schleusen- und Wehranlage 37. Diese ehemalige Wassermühle gehört zu den örtlichen Baudenkmälern. 1777 wurde sie am sogenannten Leineweberfließ erbaut und diente zwei Jahrhunderte als Öl- und Kornmühle. 1931 wurde das Mahlwerk auf Maschinenantrieb umgestellt. So war sie noch bis 1952 aktiv. 2014 und 2015 erfolgte eine aufwendige Sanierung, die sich nach den Originalvorgaben richtete. Nun ist sie als Kleinmühle in ihrem Erhaltungszustand einmalig im Spreewald und als Museum geöffnet.
Gut fünf Kilometer trennen den Ortsteil Raddusch (Raduš) von Vetschau/Spreewald (Wĕtošow). Diese Kleinstadt im südbrandenburgischen Landkreis Oberspreewald-Lausitz wurde 1302 erstmals urkundlich erwähnt. Das formelle Stadtrecht gilt seit 1543. Ab 1964 waren bis 1996 die Schornsteine eines der größten regionalen Braunkohlekraftwerke die Wahrzeichen. Inzwischen prägt der Kirchturm wieder die Stadtsilhouette. An seinem unteren Teil befindet sich ein deutschlandweit einmaliger Kirchenzwilling – eine Wendisch-Deutsche Doppelkirche. Vermutlich bauten die im 13. Jahrhundert dort lebenden Sorben (auch als Wenden bezeichnet) ihre erste Kirche. Dieser Feldsteinbau wurde während der Reformation 1540 evangelisch. Mehrere Brände im 17. Jahrhundert zerstörten das Gotteshaus. So wurde auf den Resten erst nach dem Dreißigjährigen Krieg ein neuer Kirchenbau mit Backsteinen errichtet. Nördlich dieser Dorfkirche wurde eine Schlosskapelle angebaut, in der die deutschen Schlossherren ihren Gottesdient abhielten. In der Hauptkirche mit dem Turm fanden die Gottesdienste für die Wenden in ihrer niedersorbischen Sprache statt. Zwischen 1690 und 1693 erhielt das deutsche Kirchenteil einen spätbarocken Neubau ohne Kirchturm. Dadurch gab es wieder zwei Kirchenschiffe Wand an Wand. Eine gemeinsame Sakristei verbindet die beiden Gotteshäuser. Bis 1977 gab es in beiden Teilen regelmäßige Gottesdienste.
Einmalig: Wendisch-Deutsche Doppelkirche
Seit 1995 wird der wendische Kirchenteil als Kulturkirche mit Ausstellungen und Konzerten genutzt. Obwohl beide Kirchen 2001 restauriert wurden, stammt die Ausstattung des deutschen Teils noch weitgehend aus ihrer Bauzeit. Am Kirchturm, der die wendische Hauptkirche prägt, erinnert eine Gedenktafel an den niedersorbischen Dichter Johannes Bock, der 1569 in Vetschau geboren wurde.
Besichtigungen dieser Wendisch-Deutschen Doppelkirche sind zwischen April und Oktober werktags von 10 bis 12 Uhr und 14 bis 17 Uhr möglich. Diese Nachmittagszeiten gelten auch an Sonn- und Feiertagen. Jeweils am Tag des offenen Denkmals findet ein wendischer Gottesdienst an historischem Ort in der Hauptkirche statt.
Wer in Vetschau/Spreewald (Wĕtošow/Błota) am Markt den zweigeschossigen Ratskeller sieht, wähnt sich auch in unmittelbarer Rathausnähe. Und das ist die nächste Überraschung in der über 470-jährigen Kleinstadt. Denn ein solches meist in prächtigem Stil gehaltenes Amtsgebäude im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. „Da müssen Sie zum Schloss gehen“, erklärt eine ältere Einwohnerin.
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde dieses Renaissanceschloss auf den Grundmauern einer Wasserburg aus dem 13. Jahrhundert errichtet. Diese soll auf elf Meter tief in den Boden gerammten Eichenpfählen gestanden haben. Denn dieser Standort war möglicherweise ein von Sümpfen umgebener slawischer Ringwall. So jedenfalls die Überlieferung. Der kurfürstliche Rat von Brandenburg und Herr von Zossen und Vetschau, Eustachius von Schlieben (1490-1568), erwarb dieses Anwesen, baute das Schloss und ließ den Park dazu anlegen. Seit 1345 hatte das Areal insgesamt 32 Besitzer bis es 1920 an die Stadt verkauft wurde. Seither wird es als Rathaus genutzt.
Lübbenau/Spreewald (Lubnjow/Błota) hat die größte Hafenanlage
Natürlich war er auch im Spreewald – und lange vor mir. Denn wo war Theodor Fontane nicht im Brandenburgischen? Denn an einem Augustwochenende 1859 unternahm er mit seinen Freunden einen Spreewaldausflug, wo die Reisegesellschaft nach einer Nachtkutschenfahrt aus Berlin am frühen Sonntagmorgen eintraf. Was der damals 39-Jährige dort sah und erlebte, „entfachte das Feuer in ihm“, schildert Harald Altekrüger, Vorstandsvorsitzender des Tourismusverbandes Spreewald.
Seine Spreewaldeindrücke publizierte Theodor Fontane in seinen fünfbändigen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Dies war faktisch der touristische Urknall für die Region. Denn „Fontanes Rolle als Botschafter für den Spreewald ist von Beständigkeit, überdauert bis heute. Eine solche Strahlkraft bedeutet für uns als touristische Region viel“, betont Harald Altekrüger. In der Tat. Wer Fontanes Aufzeichnungen gedanklich folgt, ist überrascht, wie vieles sich auch heute noch von dem entdecken lässt, was er beschrieb.
In Lübbenau/Spreewald (Lubnjow/Błota) befindet sich die größte Hafenanlage der Region. Wo einst Lebensmittel und Güter umgeschlagen wurden, ist jetzt ein großes Passagieraufkommen zu erleben. Denn die Touren durch die malerische Naturkulisse erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit.
Jenseits des Hafens erstreckt sich der idyllische Schlosspark. Das Schloss selber, dass seine jetzige Gestaltung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt, gehört zu den örtlichen Baudenkmälern und wird als Hotel genutzt. Die 32 Doppelzimmer und sechs Suiten sind komfortabel ausgestattet und anspruchsvoll eingerichtet. Ideal für Familien mit Kindern sind die elf Doppelzimmer, sechs Suiten und drei Apartments, die sich darüber hinaus im Marstall befinden. Der neun Hektar große Park mit seinem alten Baumbestand ist im englischen Landschaftsstil gehalten und lädt kommentarlos zum Bummeln ein. Die Pläne für diese weiträumige Gartenanlage, die ab 1820 geschaffen wurde, sollen auf Peter Joseph Lenné zurückgehen. Neben der Einfahrt zum Schlossgelände befindet sich eine Büste, die Rochus Guerrini Graf zu Lynar (1525-1596) darstellt. Diese Adelsfamilie stammte aus der Toskana. Der Festungsbaumeister kam 1568 als erster seiner Sippe nach Deutschland, die dann 1621 die Herrschaft Lübbenau kaufte, diese mehr als 300 Jahre behielt und letzte Besitzer des Schlosses bis 1944 waren.
Slawenburg Raddusch
Wie fast alles im Leben, so hat auch das Braunkohleabbaggern nicht nur negative Seiten. Denn es kann auch zu einem großen Erkenntnisgewinn führen und einen Teil unserer kulturhistorischen Entwicklung bloßlegen. So ist es unter anderem bei Raddusch (Raduš) geschehen. Dort stießen die Archäologen auf ein Jahrtausend altes Detail der Lausitzer Kulturlandschaft – die Slawenburg.
Es ist, wie anfangs schon erwähnt, keine richtige Burg, obwohl der Bau so bezeichnet wird. Eher handelt es sich um einen Rundwall aus dem 9./10. Jahrhundert. Diese oben offene Rotunde wurde mittels einer Holzrostkonstruktion und Erdreich errichtet. Das sieben Meter hohe Originalbauwerk hatte einen Außendurchmesser von 58 Meter. Innen waren es 38 Meter. An der Ost- und Westseite gab es je einen überdachten Zugang, der über einen etwa sechs Meter breiten Graben führte. Dieser entstand durch den abgetragenen Boden, der genutzt wurde, um die Lücken in der Rostkonstruktion aufzufüllen. Innerhalb dieses Rundbaus gab es vier hölzerne Brunnen, von denen einer etwa 14 Meter tief war. Die Archäologen fanden auch in diesem Innenhof Gebäudestrukturen, die als Lagerräume genutzt wurden. In unmittelbarer Nähe dieser Slawenburg soll es eine Siedlung gegeben haben, die allerdings nicht mehr rekonstruiert werden konnte.
Diese frühmittelalterliche Wehranlage an der heutigen Autobahn 15 wurde am ausgegrabenen Originalstandort nachgebaut. Sie beinhaltet innerhalb der Wallkonstruktion eine der modernsten Archäologieausstellungen Deutschlands, die nicht nur die unmittelbare Burggeschichte widerspiegelt und bis in die Gegenwart reicht. Dabei entdeckte ich auch, dass der bekannte Arzt Rudolf Virchow (1821-1902) aktiv in die Erforschung der Spreewaldgeschichte einbrachte. Denn die Lausitz für den Forschern durch ihren Keramikreichtum auf. Die fein gearbeitete Keramik mit Buckeln war dabei von besonderem Wissenschaftsinteresse. Für diese spezielle Keramik prägte Rudolf Virchow den Begriff „Lausitzer Typus“.
In einer Medienstation der Ausstellung erklären Wissenschaftler die Funktionen des „Lausitzer Typus“, von denen Hunderte zu sehen sind. Diese als Flucht- und Rettungsburg gedachte Anlage steht heute wie damals auf einem riesigen Freigelände. Das verwundert auf den ersten Blick, denn die Spreewaldregion war einst recht waldreich. Doch für den Bau dieser Anlage wurden über 1500 Eichenstämme verwendet, die aus unmittelbarer Umgebung stammten. So wurde die Umgebung des Bauwerkes gerodet und stellt sich heute noch ebenso dar. Wo einst das Bauholzrevieres kamen nun Felder mit üppigen Kräuterwiesen. Die Landwirtschaft blühte auf. Etwa elf Hektar umfasst das Freigelände, auf dem sich die Slawenburg befindet. Interessant ist dort ein sogenannter Zeitsteg. Wer diesem gitterartigen Metallband folgt, kann 12 000 Jahre niederlausitzer Geschichte nacherleben. Einlassungen im Boden markieren die jeweilige Phase. Für geschichtlich interessierte Touristen bietet die Slawenburg mit ihrem Areal einen besonderen Blick auf die regionale Entwicklung dieser einzigartigen Kulturlandschaft im Süden Brandenburgs.